Chroma Experience

Florian

User-Experience-Reife meines Unternehmens steigern

Die Art und Weise, wie interaktive Produkte hergestellt werden, hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Wo früher Technologie und Funktionen im Mittelpunkt der Entwicklung standen, sind es heute die Menschen, die unsere Produkte benutzen sollen. Während manche Unternehmen Schwierigkeiten haben, Ressourcen für die menschzentrierte Gestaltung (Human-Centered Design) bereitzustellen, haben andere diese schon längst in ihrer Unternehmens-DNA integriert und entwickeln diese entsprechend ihrer Geschäftsziele innovativ weiter. Wo ein Unternehmen in dieser Entwicklung steht, lässt sich mit sogenannten Reifegradmodellen herausfinden. Welche Modelle es gibt und wie systematische Prozesse menschzentrierter Gestaltung in Organisationen implementiert werden können, möchte ich hier kurz beschreiben.

Was ist ein Reifegradmodell?

Reifegradmodelle gibt es schon sehr lange. Sie dienten ursprünglich der Qualitätsbeurteilung von Prozessen, Organisationen und Technologien. Sie helfen Unternehmen einzuschätzen, wie gut sie in einer bestimmten Fähigkeit sind und welche Praktiken sie benötigen diese Fähigkeit auszubauen.
Es gibt eine Reihe von Reifegradmodellen, mit denen man die Usability & User Experience- Reife eines Unternehmens feststellen kann. Viele davon sind nicht frei verfügbar, einige aber schon.

Was können wir daraus lernen?

Ein UX-Reifegradmodell kann man dazu nutzen, zu bewerten, wo mein Unternehmen im Prozess der menschzentrierten Gestaltung steht. Das kann man mit der Bewertungsskala in Schulnoten vergleichen. Dieses Wissen kann zwar helfen, Probleme aufzuzeigen, aber viel wichtiger noch, es unterstützt uns im Lernprozess und im Verständnis gegenüber der Art und Weise, wie wir unsere Produkte entwickeln.

Wie steht's eigentlich in meinem Unternehmen?

Die Bewertung des UX-Reifegrads einer Organisation sollte auf verschiedenen Bewertungsmethoden basieren. Dazu gehören die Beobachtung und Befragung zu Arbeitspraktiken, die Analyse von Prozessen, Mitarbeiter:innen und Tools, die Bewertung von Ergebnissen und Umfragen unter Mitarbeiter:innen aus dem gesamten Unternehmen.
Jakob Nielsen hat 2006 eines der ersten UX-Reifegradmodelle entworfen. Dieses Modell wurde seitdem kontinuierlich weiterentwickelt und an die aktuellen Entwicklungen in der Produktgestaltung angepasst. Dieses etablierte 6-stufige Modell kann Organisationen helfen, ihre Prozesse zu analysieren und einzuordnen.

Quelle: https://www.nngroup.com/articles/ux-maturity-model/

Stufe 1: Abwesend

UX wird ignoriert oder ist nicht vorhanden.

Stufe 2: Eingeschränkt

UX-Arbeit ist selten, wird planlos durchgeführt und hat keine Bedeutung.

Stufe 3: Aufstrebend

Die UX-Arbeit ist funktional und vielversprechend, wird aber inkonsequent und ineffizient durchgeführt.

Stufe 4: Strukturiert

Die Organisation verfügt über eine semisystematische UX-bezogene Methodik, die weit verbreitet ist, jedoch mit unterschiedlichem Grad an Effektivität und Effizienz.

Stufe 5: Integriert

Die UX-Arbeit ist umfassend, effektiv und allgegenwärtig.

Stufe 6: Benutzergesteuert

Das Engagement für UX auf allen Ebenen führt zu tiefgreifenden Erkenntnissen und außergewöhnlichen nutzerzentrierten Design-Ergebnissen.

Die Nielsen Norman Group bietet einen kostenlosen Selbsttest an, der dabei helfen kann in wenigen Minuten festzustellen, wo mein Unternehmen im Prozess der menschzentrierten Gestaltung steht: UX Maturity Quiz

Mein Unternehmen steht noch am Anfang. Und nun?

Sollte der Prozess der menschzentrierten Gestaltung in deinem Unternehmen noch ganz am Anfang stehen, können z.B. Verfahrensanweisungen helfen, einen ersten Schritt zu machen. Einen guten Einstieg in die menschzentrierten Gestaltung kann die DIN EN ISO 9241-210 (Menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme) geben. DIN EN ISO 27500 (Die menschzentrierte Organisation - Zweck und allgemeine Grundsätze) und DIN EN ISO 27501 (Die menschzentrierte Organisation - Anleitung für Führungskräfte) können wertvolles Wissen und Handlungsempfehlungen vermitteln und dabei unterstützen, entsprechende Prozesse in Unternehmensstrukturen zu integrieren.
Es ist jedoch naiv zu glauben, dass sich durch das Veröffentlichen einer Verfahrensanweisung im Unternehmen das Verständnis und die innere Haltung für die menschzentrierte Gestaltung einfach etablieren lässt. Vielmehr sollte dieses Verständnis und die dazugehörenden Prozesse schrittweise institutionalisiert werden. Einzelne Stufen im Reifegradmodell lassen sich nicht einfach überspringen, denn die menschzentrierte Gestaltung lässt sich nicht erzwingen, sondern muss nach und nach in die DNA eines Unternehmens übergehen. Allein der Schritt von einer Stufe zur nächsten kann unter Umständen einige Jahre dauern. Dies wird deutlich, wenn wir uns die Akteure und Prozesse anschauen, die für das Etablieren der menschzentrierten Gestaltung elementar sind:

Entwicklerteam

Wie steht es um das Bewusstsein und Wissen zur menschzentrierten Gestaltung? Kann das Entwicklerteam eigenständig Produkte entwickeln in denen positive Nutzungserlebnisse entstehen? Sind Rollen im Team von User Experience Professionals (UX Designer:innen,User Researcher:innen) besetzt?

User & Market Research

Werden Research-Methoden (qualitativ, quantitativ, datenbasiert oder automatisiert) genutzt um Anforderungen, Bedürfnisse und Erwartungen zu erkennen oder um Nutzererlebnisse vor und während der Entwicklung, sowie bei Markteinführung und Betrieb zu evaluieren?

Budgetierung

Sind Budgets so ausgelegt, dass alle notwendigen Maßnahmen zur Integration von menschzentrierten Gestaltung finanziert werden können?

Projektmanagement

Stehen fachliche Funktionalität oder technische Aspekte im Vordergrund und werden wichtiger als User Experience bewertet? Oder werden alle Aspekte der Produktentwicklung in Einklang gebracht und Bedürfnisse, Erwartungen, Nutzen der Kundschaft und Marktpotential als relevante Bewertungskriterien mit einbezogen?

Unternehmensstrategie

In erfolgreichen menschzentrierten Unternehmen ist das Thema User-Experience bereits auf Geschäftsleitungsebene verankert und ist fester Bestandteil der Unternehmensstrategie bzw. der Unternehmensziele.

Organisation von Design

Die Organisation von Design, sei es Experience- oder Interface-Design, ist ein zentraler Bestandteil in menschzentrierten Unternehmen. Wer definiert Gestaltungsregeln und wie werden diese konsequent eingehalten und qualitativ überprüft? Je nach Reifegrad ist dafür eine einzelne Person zuständig, bis hin zu internen Agenturen, die anderen Teams bei der Gestaltung von Produkten unterstützen. Fortgeschrittene Unternehmen treffen Designentscheidungen iterativ und immer unter der Einbeziehung von Nutzerinnen, Designer:innen und Entwickler:innen. Deren Meinungen und Bedürfnisse werden durch Research-Methoden bis in die finale Gestaltung und darüber hinaus berücksichtigt.

Anforderungsmanagement

Anforderungen sind die gemeinsame Arbeitsgrundlage für UX-Professionals und Entwickler:innen. Schon das Erfassen der Anforderungen sollte daher idealerweise auf echten Bedürfnisse der Kundschaft basieren. In vielen Unternehmen werden die technischen und fachlichen Anforderungen oft höher gewichtet, als das Erlebnis der Kundschaft. Deswegen ist es wichtig, dass schon im Requirements Engineering (RE) Methoden des User-Research gekannt und aktiv genutzt werden, um den menschzentrierten Gestaltungsprozess schon im frühesten Projektstadium zu implementieren.

Softwarearchitektur

Erfolgreiche menschzentrierte Unternehmen berücksichtigen in Architekturentscheidungen von Anfang an die Bedürfnisse ihrer Anwender:innen. Je enger die Zusammenarbeit und je besser das gemeinsame Verständnis von UX-Professionals und Software-Architekten für die Anwenderzentrierung, desto besser wird das Erlebnis der Nutzenden sein.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Je nachdem wie ein Unternehmen aufgestellt ist, können die Disziplinen, die mit User Experience Professionals zusammenarbeiten, sehr unterschiedlich sein. Eine enge Zusammenarbeit mit Markenführung und Marketing macht Sinn, damit das Versprechen des Unternehmens mit dem Nutzungserlebnis zusammenpassen. Um wertvolle Kund:innen-Insights zu gewinnen, kann die Einbindung von Experience Professionals in den Vertrieb und Kundenservice ebenfalls sehr sinnvoll sein.

Hilfe, ich brauche Unterstützung!

Die Vielzahl an Aspekten zur Implementierung eines menschzentrierten Gestaltungsprozesses kann auf den ersten Blick einschüchternd wirken. Nicht umsonst spricht man von der Integration in die Unternehmens-DNA. Aus diesem Grund haben sich einige Beratungsunternehmen diesem Bedarf angenommen und unterstützen bei der Umsetzung des menschzentrierten Gestaltungsprozesses. Hier werden Reifegradmodelle eingesetzt, um Bedarfe festzustellen, messbar zu machen und nachhaltig Kompetenz im Unternehmen aufzubauen.
Die Integration in die Unternehmens-DNA ist ein langfristiger Prozess und Bedarf unter Umständen den Aufbau eines kompetenten UX-Inhouse-Teams. Für akute, in sich abgeschlossene Projekte, kann dieser Prozess unter Umständen zu lange dauern. Trotzdem sollten die Prinzipien der menschzentrierten Gestaltung auch in diesen Projekten Anwendung finden, um erfolgreich am Markt bestehen zu können und Fehlinvestitionen zu vermeiden. In diesen Fällen lohnt sich der Einsatz externer Designteams. Agenturen, die sich auf die menschzentrierten Prozesse spezialisiert haben, sorgen dafür, dass Nutzer:innen vom Requirements-Engineering bis hin zum Go-To-Market in alle Projektschritte mit einbezogen werden.

Fazit

Die User-Experience-Reife eines Unternehmens zu steigern ist ein komplexer Prozess. Gerade deshalb ist es wichtig zu verstehen, wo mein Unternehmen in diesem Prozess steht. Reifegradmodelle können dabei helfen die eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen, diese zu fördern und bei Bedarf zu optimieren. Selbst wenn die UX-Arbeit in deinem Unternehmen gut zu sein scheint, gibt es immer Dinge, die man verbessern kann. Die Arbeit von Mitarbeitern, die Glaubwürdigkeit des Unternehmens und die Erfahrungen von Kund:innen und Nutzer:innen zu verbessern ist ein ständiger Prozess, der in regelmäßigen Abständen einer Überprüfung bedarf. Das Wissen über den eigenen Reifegrad kann also dazu beitragen, die eigene UX-Arbeit zu systematisieren und zu einem echten Teil der Unternehmens-DNA zu machen, sodass diese Praktiken auch bei großen organisatorischen Veränderungen Bestand haben. Beratungsunternehmen und UX-Agenturen können dabei unterstützen, den Menschen in die Produktentwicklung zu integrieren, sei es in akuten Projekten oder in der langfristigen Implementierung im Unternehmen.

Mehr erfahren:

https://www.stuttgart.ihk24.de/fuer-unternehmen/innovation/digitale-wirtschaft/digitale-transformation/menschzentrierte-gestaltung-4933076

https://www.kompetenzzentrum-usability.digital/

https://t3n.de/magazin/user-experience-wie-ux-maturity-250493/

https://www.bitkom-akademie.de/live-online-seminar/ux-strategie-uux-reifegrad-bestimmen

https://www.germanupa.de/berufsverband-german-upa/aktuelles/webinar-ux-im-unternehmen-verankern-thorsten-wilhelm